Bittere Realität

Wie oft habe ich schon darüber geschrieben, wie wichtig gerade für uns Auszeiten und Entlastungsmöglichkeiten sind – und dass es viel zu wenige solcher Erholungsoasen gibt. Jetzt ist das nächste, seit vielen mühsamen Jahren geplante Kurzzeitwohnenprojekt für Kinder mit Behinderung abgeblasen worden. Das ist eine Vollkatastrophe – und leider bittere Realität.

Wie Ihr wisst, kann ich ja jedes Jahr für gut 7-10 Tage in den Kupferhof nach Hamburg fahren. Während ich dort eine tolle 24/7-Betreuung genieße, können Mama und Papa zumindest einmal im Jahr in dieser Zeit im wahrsten Sinne des Wortes Urlaub machen. Nicht auszudenken, wenn es den Kupferhof nicht gäbe. Und zugleich beschämend, dass es ansonsten weit und breit keine vergleichbaren Angebote gibt.

Tatsache ist, dass es bundesweit deutlich zu wenige Kurzzeitwohnangebote gibt. Nicht umsonst ist die jährliche Bewerberliste für den Kupferhof ewig lang – und wird immer länger. Wir sind heilfroh, jedes Jahr noch einen kleinen Erholungszeitraum ergattern zu können.

Im Kreis Esslingen in Baden-Württemberg haben daher schon seit vielen Jahren mehrere Partner daran gearbeitet, ein weiteres Kurzzeitwohnenprojekt aus dem Boden zu stampfen. Jetzt aber der Schock: Das Projekt wurde abgeblasen, und zwar aus Kostengründen. Ich kann mir vorstellen, was diese Nachricht bei Familien mit einem Kind mit Behinderung auslöst…

Es ist und bleibt leider bittere Realität: Wir Familien sind unerhört, unsichtbar und haben keine Lobby. Sonst würde es trotz allgemeiner Kostensteigerungen sicherlich längst mehr Oasen wie den Kupferhof geben.

UK-Restart

Das Thema UK (= Unterstützte Kommunikation) ist bei mir ja eine emotionale Achterbahnfahrt. Zwischen himmelhochjauchzend bis völlig frustriert ist alles dabei. Bei mir geht die UK-Kurve jetzt aber wieder eindeutig nach oben… 😉

Ich schiebe ja schon seit einiger Zeit echt viel Talker-Frust. Das liegt einerseits an der Technik (zu kompliziert, zu aufwendig, funktioniert nicht), andererseits an der fehlenden fachlichen Begleitung. Die Konsequenz: Mein Talker mit Augensteuerung bleibt in der Schublade, stattdessen kommuniziere ich einfach-klassisch mit meinen Metacom-Bildkarten und viel Gestik und Mimik.

Im November war ich daher wieder im Institut für Gelingende Kommunikation, um mich sowohl technisch als auch fachlich beraten zu lassen. Und der Termin hat mich (und Mama und Papa) wieder richtig aufgebaut und motiviert! Denn gerade technisch tut sich enorm viel im „Talker-Markt“.

Meine UK-Beraterin Beate Schrader hatte zur Erprobung jetzt das TD-Pilot von TobiiDynavox organisiert. Zweimal konnte ich das TD-Pilot testen – und das war echt klasse! Die Augensteuerung klappte total einfach, zuverlässig und auf Anhieb. Und die Bedienung des Gerätes war ebenfalls selbsterklärend und super-einfach. Das hat total Spaß gemacht! Lust statt Frust!

Die Idee ist jetzt, bei der Krankenkasse eine Umversorgung einzuleiten. Heißt konkret: Der jetzige Talker geht zurück, das TD-Pilot kommt (hoffentlich). Dazu würde ich mich dann auch fachlich enger begleiten lassen, um die TD-Pilot-Nutzung auch bestmöglich zu lernen.

UK heißt aber nicht, sich nur auf einen Talker zu verlassen. UK umfasst viele Kommunikationsformen, und so nutze ich natürlich auch weiterhin meine Metacom-Bildkarten sowie auch Gebärden! Denn da verstehe ich ja auch einige echt gut bzw. nutze sogar welche (so gut es motorisch geht) – wie z.B. die Gebärde für das Wort „fertig“. Um das alles besser miteinander zu verbinden, tauchen wir jetzt zusätzlich in die Möglichkeiten der „SIGNdigital„-Anwendung ein…

Ihr seht: Das ist alles „nicht ohne“ – aber lohnt sich total! Denn (und das ist das Allerwichtigste!): Ich habe totale Lust auf Kommunikation und kann nicht genug davon kriegen, mich mitzuteilen! Also – los geht’s… 😉

Anerkennung oder Wegducken?

Papa hat heute einen Artikel gelesen, der bei ihm zwiespältige Gefühle ausgelöst hat. Eine Frau aus dem Landkreis Osnabrück hat die Niedersächsische Verdienstmedaille bekommen – weil sie über Jahrzehnte ihren Sohn mit Behinderung gepflegt und dafür alles andere aufgegeben hat. Ist das eine schöne Anerkennung von Care-Arbeit? Oder eher ein gesellschaftspolitisches Versagen?

Screenshot von noz.de

Zuallererst: Herzlichen Glückwunsch an Annegret Wehry! Ich freue mich wirklich sehr für sie, dass sie diese Auszeichnung erhalten hat. Trägt die Auszeichnung und die Berichterstattung doch dazu bei, dass die Angehörigenpflege einmal mehr aus der Unsichtbarkeit geholt wird. Und dieses Engagement von Annegret Wehry ist in der Tat bewundernswert.

Gleichzeitig weiß ich genau, was hinter den euphemistischen Begriffen „aufopferungsvoll“ und „Lebensaufgabe“ steckt. Annegret Wehry wird alles der Pflege ihres Sohnes untergeordnet haben. Die Pflege des eigenen Kindes mit Behinderung bedeutet: 24/7 im Einsatz, kaum Entlastung, Dauer-Kampf gegen alle Barrieren und Widerstände, gesellschaftliche Isolation. Wie mag das in den 70er oder 80er Jahren erst gewesen sein?

Annegret Wehry wird sich vermutlich komplett zurückgenommen haben: Ihren Job hat sie aufgegeben, so steht es im Artikel. Was ist mit Hobbies, Zeit für sich, Zeit für Freunde? Gab es das?

Von daher ist die Lebensleistung von Annegret Wehry mehr als auszeichnungswürdig. Aber steckt hinter dieser Auszeichnung nicht noch viel mehr? Ist es nicht eigentlich auch ein Eingeständnis des Staates, der Politik und der Gesellschaft, Menschen mit Behinderung und deren pflegende Angehörige noch immer zu vergessen und nicht zu beachten?

Die häusliche Pflege wird noch immer nicht wertgeschätzt. Familien wie wir sind unerhört und unsichtbar. Das hat nicht zuletzt die Corona-Pandemie eindrücklich gezeigt. Wenn dann eine bewundernswerte Frau wie Annegret Wehry ausgezeichnet wird, ist das auch das politische und gesellschaftliche Eingeständnis: „Wir haben Dich 53 Jahre nicht im Blick gehabt und nahezu nichts dafür getan, Dich und Deine Familie zu entlasten.“

Dennoch hoffe ich, dass viele weitere pflegende Angehörige eine solche Auszeichnung erhalten. Verdient haben es alle.