Anerkennung oder Wegducken?

Papa hat heute einen Artikel gelesen, der bei ihm zwiespältige Gefühle ausgelöst hat. Eine Frau aus dem Landkreis Osnabrück hat die Niedersächsische Verdienstmedaille bekommen – weil sie über Jahrzehnte ihren Sohn mit Behinderung gepflegt und dafür alles andere aufgegeben hat. Ist das eine schöne Anerkennung von Care-Arbeit? Oder eher ein gesellschaftspolitisches Versagen?

Screenshot von noz.de

Zuallererst: Herzlichen Glückwunsch an Annegret Wehry! Ich freue mich wirklich sehr für sie, dass sie diese Auszeichnung erhalten hat. Trägt die Auszeichnung und die Berichterstattung doch dazu bei, dass die Angehörigenpflege einmal mehr aus der Unsichtbarkeit geholt wird. Und dieses Engagement von Annegret Wehry ist in der Tat bewundernswert.

Gleichzeitig weiß ich genau, was hinter den euphemistischen Begriffen „aufopferungsvoll“ und „Lebensaufgabe“ steckt. Annegret Wehry wird alles der Pflege ihres Sohnes untergeordnet haben. Die Pflege des eigenen Kindes mit Behinderung bedeutet: 24/7 im Einsatz, kaum Entlastung, Dauer-Kampf gegen alle Barrieren und Widerstände, gesellschaftliche Isolation. Wie mag das in den 70er oder 80er Jahren erst gewesen sein?

Annegret Wehry wird sich vermutlich komplett zurückgenommen haben: Ihren Job hat sie aufgegeben, so steht es im Artikel. Was ist mit Hobbies, Zeit für sich, Zeit für Freunde? Gab es das?

Von daher ist die Lebensleistung von Annegret Wehry mehr als auszeichnungswürdig. Aber steckt hinter dieser Auszeichnung nicht noch viel mehr? Ist es nicht eigentlich auch ein Eingeständnis des Staates, der Politik und der Gesellschaft, Menschen mit Behinderung und deren pflegende Angehörige noch immer zu vergessen und nicht zu beachten?

Die häusliche Pflege wird noch immer nicht wertgeschätzt. Familien wie wir sind unerhört und unsichtbar. Das hat nicht zuletzt die Corona-Pandemie eindrücklich gezeigt. Wenn dann eine bewundernswerte Frau wie Annegret Wehry ausgezeichnet wird, ist das auch das politische und gesellschaftliche Eingeständnis: „Wir haben Dich 53 Jahre nicht im Blick gehabt und nahezu nichts dafür getan, Dich und Deine Familie zu entlasten.“

Dennoch hoffe ich, dass viele weitere pflegende Angehörige eine solche Auszeichnung erhalten. Verdient haben es alle.

Virus-Déjà-vu

Bei uns wiederholt sich gerade all das, was wir schon vor drei Wochen erleben durften. Erneut quält mich ein Virusinfekt, erneut bin ich zuhause und kann nicht zur Schule. Das schlägt hier bei uns doch sehr auf die allgemeine Gemütslage…

Das kommt uns hier zuhause irgendwie vor wie im Film „Und täglich grüßt das Murmeltier„: In der Nacht von Samstag auf Sonntag ging’s bei mir los. Eine Schniefnase ohne Ende, der PARI BOY ist wieder mein Alltagsbegleiter. Ich weiß nicht, wieviel Liter Kochsalzlösung ich in den vergangenen Wochen weginhaliert habe…

Gemörserte Sinupret-Tabletten und das obligatorische Nasenspray gehören natürlich auch zum Programm. Aber zum Glück bin ich auch diesmal fieberfrei und ansonsten gut drauf. Blöd ist für uns alle hier, dass ich schon wieder nicht zur Schule kann. Das ist jetzt insgesamt schon meine dritte Krank-Woche in diesem Jahr.

Mit Mama (die übrigens jetzt auch gemäß aller Domino-Infekt-Regeln krank ist) und Papa habe ich verabredet, dass wir die „Los Virus-Wochos“ jetzt schnell beenden und danach den Frühling einläuten. Andernfalls geht hier die Familienstimmung echt tief in den Keller…

Wenn’s um Geld geht – Teil 2

Zum Thema Geld habe ich noch einen weiteren Gedanken: Diesmal geht es nicht um direkte Leistungen für mich und uns. Es geht darum, wie das „Totschlagsargument“ Geld bzw. Kosten jedes noch so kleine Inklusionspflänzchen gnadenlos platttrampelt. So geschehen bei uns in Osnabrück.

Kennt Ihr den Begriff „Dritter Ort„? Ich kannte den Begriff zugegebenermaßen bis vor gut zwei Jahren auch nicht. Bis plötzlich bei uns in Osnabrück darüber diskutiert wurde, die Stadtbibliothek zu einem solchen „Dritten Ort“ weiterzuentwickeln.

Aber was ist denn nun ein „Dritter Ort“? Darunter versteht man (mal von mir übersetzt) einen „Ort für alle„; also eine Kultur- und Begegnungsstätte mit tollen Angeboten für Jung und Alt, mit und ohne Behinderung und barrierefrei – also Inklusion pur. Gerade Bibliotheken sind prädestiniert, zu solchen Treffpunkten zu werden, da sie im Zuge der Digitalisierung ihren eigentlichen Zweck der Bücherausleihe nach und nach verlieren.

Es gibt gerade in Skandinavien tolle Beispiele, wie solche Begegnungsstätten funktionieren, z.B. das „Dokk1“ in Aarhus und das „Oodi“ in Helsinki. Wer sich diese Treffpunkte mal online ansieht, kann nur ins Schwärmen geraten – einfach großartig! Das sind wahre Inklusions-Leuchttürme!

Aber zurück zu uns nach Osnabrück: Anfang 2021 gab’s einen Ratsbeschluss, die Idee eines „Dritten Ortes“ aufzugreifen und zu konkretisieren. Ich war wie elektrisiert – was wäre das toll, wenn es einen solchen inklusiven Treffpunkt mit tollen Angeboten hier bei uns in Osnabrück gäbe! Denn: Hier gibt es bislang kaum inklusive Begegnungsstätten.

Wie Ihr wisst, fahre ich gerne mit Mama, Papa oder meinen Buddys in den Zoo. Denn da gibt es viel zu erleben und vor allem eine „Toilette für alle„, die es überhaupt möglich macht, dass ich über mehrere Stunden im Zoo bleiben kann. Wir können uns da auch mit anderen treffen – also uns begegnen. Eine zweite Option ist dann noch das StadtgalerieCafé in der Innenstadt. Und dann hört’s auch schon auf…

Monatelang gab’s dann keine weiteren News, wie die Planungen zum „Dritten Ort“ in Osnabrück voranschreiten. Bis Ende 2022 – da hieß es plötzlich in einer Ratsvorlage: Die Pläne werden auf Eis gelegt. Der Grund: Alles viel zu teuer und die Stadt hat kein Geld…

Ruuuummms! Da wurde es wieder hervorgekramt, das „Totschlagsargument“ Kosten. Wenn ich jetzt mal ganz böse und provokativ wäre, dann würde ich sagen: „Wenn ich keine Lust habe, Ideen weiterzuentwickeln, dann hole ich die Kostenkeule raus und das Thema ist tot.

Na klar ist das Kostenargument gerade in diesen Zeiten nicht von der Hand zu weisen. Die Kommunen haben leere Kassen; da müssen alle Kommunalpolitiker verantwortungsvoll gucken, wie man die Ausgaben in den Griff bekommt und Investitionen hinterfragt. Aber wie so häufig wird auch hier in Osnabrück der Rotstift zuallererst bei Projekten angesetzt, die keine Lobby haben.

Warum ist das so? Ganz einfach: Es gibt keinen Aufschrei – auch hier ist die Ankündigung, die Pläne für den „Dritten Ort“ zu beerdigen, völlig geräuschlos durchgelaufen. Es gab kein Echo, keine Resonanz, nix dergleichen. Dazu kommt, dass auch in der Osnabrücker Kommunalpolitik der Irrglaube vorhanden ist, Inklusion koste immer nur viel Geld und sei zu teuer. Wie fatal!

Tatsache ist doch: Wer Inklusion wirklich will, der hätte das Thema „Dritter Ort“ nicht ad acta gelegt, sondern überlegt, wie sich bestehende Kulturangebote in Osnabrück im kleinen Rahmen inklusiv weiterentwickeln lassen. Man hätte auch mal Menschen wie uns fragen können, was wir uns wünschen oder ob wir Vorschläge oder Ideen haben.

Das ist alles nicht passiert; erneut wurde eine große Chance verpasst, Inklusion in Osnabrück ins Bewusstsein und voranzubringen. Mut macht das nicht, ganz im Gegenteil…