Am Sonntag steht die Europawahl an – für mich auch. Denn erstmals dürfen auch 16-jährige wählen. Ich also auch, dank des sogenannten inklusiven Wahlrechts.
Mama und Papa hatten das gar nicht auf dem Schirm, als plötzlich drei Wahlbenachrichtigungen im Briefkasten waren. Also haben wir dreimal Briefwahl beantragt und auch schon alle drei unsere Stimme abgegeben.
Wahrscheinlich fragen sich jetzt einige von Euch: Wieso darf/kann ich wählen und wie läuft das genau ab? Noch bis 2019 waren Menschen mit Behinderung von den Wahlen ausgeschlossen. Diese sogenannten Wahlrechtsausschlüsse waren im Bundeswahlgesetz festgeschrieben. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Regelung dann gekippt – denn das Wahlrecht ist ein Grundrecht.
Und wie kann ich nun wählen? Mit einer Wahlassistenz, also einer Hilfestellung. Das heißt: Mama und Papa erklären, ich entscheide. Also hat Papa fleißig recherchiert, wo es passende Infos für mich gibt – z.B. auf den Seiten von Aktion Mensch. Und so ist er auf den Sozial-O-Mat gestoßen – ein echt gutes Informations- und Hilfsangebot für mich.
Ich habe jedenfalls meine Stimme abgegeben – und hoffe, Ihr habt das alle auch getan bzw. tut das am Sonntag. Denn gerade in diesen Zeiten ist Wählen und jede Stimme für mehr Teilhabe und Vielfalt und gegen Ausgrenzung total wichtig!
Viele von Euch haben bestimmt schon die aktuelle „Aktion Mensch“-Kampagne #OrteFürAlle gesehen. Eine Inklusions-Kampagne, die ja was bewirken soll. Allerdings wohl nicht hier bei uns in Osnabrück – wie der derzeitige Kommunal- und OB-Wahlkampf erschreckenderweise zeigt…
Aber zunächst mal meine Gedanken zur #OrteFürAlle-Kampagne: Grundsätzlich finde ich die Kampagne gut, da sie sehr anschaulich auf die sichtbaren Barrieren hinweist, die wir Menschen mit Behinderung Tag für Tag erleben.
Aber es gibt ja nicht nur die sichtbaren Barrieren – noch entscheidender sind die unsichtbaren Barrieren, die der Inklusion so sehr im Weg stehen. Das sind die noch immer und überall vorhandenen Berührungsängste und die Tatsache, dass Menschen mit Behinderung weitestgehend unsichtbar und unerhört sind.
Daher ist die Kampagne für mich ein erster Schritt – dem viele weitere folgen müssten, um die Inklusion weiter vorantreiben zu können.
Was hat das nun mit dem Kommunal- und OB-Wahlkampf zu tun? Eine ganze Menge… Wer sich die Mühe macht, den (hier in Osnabrück erschreckend tranigen!) Wahlkampf zu verfolgen und sich die Programme der Kandidaten ansieht, findet zum Thema Inklusion: nichts. Zwar taucht das Wort vielleicht mal auf – dann aber nur mit einem oder zwei Allerweltssätzen…
Keine Konzepte, keine Ideen, keine Impulse. Nichts. Was für ein Armutszeugnis. Dabei wäre es doch so einfach gewesen, die „Aktion Mensch“-Kampagne für Osnabrück zu adaptieren: Was wäre mit Schlagworten wie #WohnenFürAlle, #MobilitätFürAlle, #SportFürAlle, #KulturFürAlle oder gar #OsnabrückFürAlle? Welche tollen Projekte ließen sich dahinter entwickeln? Das muss allerdings auch gewollt sein…
Dass es anders geht, hat die Stadt Osnabrück ja schon bewiesen: Neuerdings gibt es die „Erlebniswochen 60+“ für Menschen ab 60. Das ist eine wirklich gute und frische Weiterentwicklung der echt sehr verstaubten Seniorenwochen. Warum lässt sich das nicht auf die Inklusion übertragen? Warum entwickelt die Stadt keine Inklusionswochen als #OsnabrückFürAlle? Da drängt sich einfach der bittere Verdacht auf, dass Menschen mit Behinderung nicht die Lobby haben wie die große Wählergruppe der Rentner…
Papa hat dazu übrigens den ersten Leserbrief seines Lebens geschrieben. Was glaubt Ihr: Hat unsere regionale Tageszeitung den abgedruckt? Na? Richtig erraten: Natürlich nicht… So was schafft ja keine Klicks…
Bitteres Fazit meiner #(W)OrteFürAlle: Wir bleiben selbst in Wahlkampfzeiten weiterhin unsichtbar und unerhört. Ich lasse mich davon aber weiterhin nicht entmutigen!
UPDATE, 11.9.: Es geschehen noch Zeichen und Wunder! Unsere regionale Tageszeitung hat am gestrigen Samstag doch tatsächlich Papas Leserbrief abgedruckt… immerhin…