Meine Corona-Gedanken 2

Es ist irgendwie ein Wechselbad der Gefühle: Auf der einen Seite meine Geburtstags-Geschenke-Auspack-Tage – auf der anderen Seite das, was am Samstag in Berlin abgelaufen ist. Und was bei mir und uns Angst, Fassungslosigkeit, Entsetzen und Ratlosigkeit auslöst.

Da gehen am Samstag tausende Menschen in Berlin auf die Straße: Nazis, Rechtspopulisten, Verschwörungsfanatiker, Apokalyptiker, Impfgegner und Weltverschwurbeler. Eines hat diese brandgefährliche Mischpoke gemeinsam: Sie sind reine Egoisten, pfeifen auf gesellschaftlichen Zusammenhalt und halten sich für was Besseres. Für eine Art übergeordnete Klasse. Was mir Angst und Bange macht.

Ich habe vollstes Verständnis dafür, dass Menschen in diesen Zeiten Angst haben. Dass sie nicht alles ok finden, was die Verantwortlichen tun. Dass sie Fragen stellen, diskutieren und ermahnen. Das ist enorm wichtig und essentiell in einer funktionierenden und solidarischen Gesellschaft. Und das tue ich ja auch.

Wofür ich aber überhaupt kein Verständnis habe: Dass Menschen ihr Recht auf freie Meinungsäußerung bewusst dafür missbrauchen, andere Menschen in Gefahr zu bringen. Wer auf Demos bewusst Abstandsregeln missachtet und keinen Mundschutz trägt, nimmt billigend und gewollt in Kauf, andere zu infizieren – und stellt sich somit als was Besseres dar und hält Risikopatienten für Abschaum. Nach dem Motto: Tja, dann seid Ihr selber schuld, wenn Ihr das bisschen Corona nicht vertragen könnt. Dann seid Ihr es auch nicht wert.

Mir wird speiübel, wenn ich die Bilder von Reichsflaggen, QAnon-Anhängern und Bill-Gates-Hassern sehe – und gleichzeitig frage ich mich, wie wir diese rapide Spaltung der Gesellschaft aufhalten können. Aufklärung, Aufklärung, Dialog, Dialog, heißt es dann schnell. Doch wie erreichen wir diese Leute noch?

Wir alle sind gefragt, mit den Menschen um uns herum darüber zu sprechen. Aber auch die Medien sehe ich in der Verantwortung: Wer seit Tagen rauf und runter – in bester „Clickbaiting-Manier“ – nur darüber berichtet, ob der erste Schultag in Niedersachsen nun eine halbe oder ganze Katastrophe wird, ist oder geworden ist und nur Maximal-Dramen heraufbeschwört mit provokativen Headlines mit einem Fragezeichen am Ende, wird seiner Verantwortung nicht gerade gerecht – und gibt den Verschwörungsfanatikern sogar Futter.

Nur Dramen und Möchtegern-Skandale sind daher der falsche Weg! Wo sind die Hintergrundberichte, wo die Einordnungen? Hat zum Beispiel jemand darüber berichtet, dass in Niedersachsen an einigen Schulen schon viel früher der Unterricht losging und wie sich alle darauf vorbereitet haben mit all den Herausforderungen? Nein – kaum ein Medium hat überhaupt registriert, dass an Förderschulen schon viel früher der Unterricht begonnen hat. Artikel und Berichte darüber? So gut wie Fehlanzeige – klammern wir mal diesen ernüchternden Lehrer-Hilferuf in der ZEIT aus. Und so bewahrheitet sich einmal mehr, dass wir die „Unerhörten“ sind und bleiben. Unsichtbar für die Medien, die Öffentlichkeit – und leider auch weiterhin für die Politik und die Entscheider. Schade und bitter.

Ich werde trotzdem nicht aufhören und mich weiter zu Wort melden. Weil es wichtig ist. Und vielleicht den ein oder anderen überzeugt, dass das, was wir am Samstag in Berlin erleben mussten, der falsche Weg ist.

Die vergessene Schule

Das Thema Schulöffnungen war – neben der Maskenpflicht – DAS Thema der vergangenen Tage. Was wurde nicht alles öffentlich diskutiert, auch gestritten und gemotzt. Dabei fiel leider kaum auf, dass die Politik eine Schulform völlig vergessen hatte: die Förderschulen. Warum wundert mich das nicht…

Eins vorweg: Ich möchte nicht in der Haut der Politiker stecken. Die können es eh niemandem recht machen, alle wissen es besser. So wie beim Fußball – da gibt es ja auch 80 Millionen Bundestrainer…

Jetzt hat die Politik entschieden, dass die Schulen schrittweise öffnen sollen – und zwar je nach Altersstufe. Alles schön im Fahrplan des Kultusministeriums nachzulesen. Fällt Euch was auf? Kein Wort zu den Förderschulen oder Tagesbildungsstätten wie das bei uns in Niedersachsen heißt. Wir wurden – mal wieder – vergessen…

Das hat die Politik doch wohl gemerkt – uuups! -, so dass für Förderschulen jetzt ruckzuck eine Ergänzung zum Leitfaden zusammengezimmert wurde, die auch nachträglich online gestellt werden soll. Ist ja irgendwie auch peinlich… Da steht drin, dass „die Schulleitung (…) in Eigenverantwortung über den konkreten systemangepassten Aufbau des Wiederanlaufens des Schulbetriebs“ entscheiden darf.

Dem Kultusministerium scheint also wohl aufgefallen zu sein, dass die schrittweise Schulöffnung nach Altersstufen bei Förderschulen nun mal gar nicht funktionieren kann. Bei uns kommt es nämlich bei der Umsetzung der notwendigen Schutzmaßnahmen nicht darauf an, wie alt wir sind. Entscheidend ist vielmehr die Art der Behinderung: Wer ist Rollikind, liegt eine Autimusstörung vor etc. – das Alter spielt beim „Schulöffnungs-Wie“ überhaupt keine Rolle!

Niedersachsen ist offenbar nicht das einzige Bundesland, das Förderschulen vergessen hat. Ich weiß jetzt aber nicht, ob mich das beruhigen soll… Nein, im Gegenteil: Leider bestätigt das den Eindruck, den immer mehr Eltern behinderter Kinder bekommen und über den ich ja auch schon mehrfach hier geschrieben habe. Schön ist das nicht… 🙁

Aber nun mal was Positives: Unsere Schule wird am 4. Mai wieder öffnen! Zwar vorerst nur eingeschränkt und gruppenweise – aber immerhin! Jede Klasse wird in zwei Gruppen (A+B) aufgeteilt. Gruppe A kommt montags und dienstags, Gruppe B mittwochs und donnerstags. Freitags wechseln sich die beiden Gruppen ab.

Es ist ein Anfang, den sicherlich viele Eltern behinderter Kinder – die hochbelasteten „Unerhörten“ am Ende ihrer Kräfte – herbeigesehnt haben! Wir auf jeden Fall auch!

Wenn Leopoldina spricht

Na, habt Ihr Corona-Geplagten heute auch das Leopoldina-Papier gelesen? Ich tippe mal, das waren heute die 19 meistgelesenen pdf-Seiten im Internet… Und: Ist Euch auch was aufgefallen dabei??? Richtig! In der gesamten Stellungnahme tauchten nicht einmal Begriffe wie Behinderung oder Inklusion auf. Bingo!

Ich werde ja nicht müde, immer wieder von uns „Unerhörten“ zu sprechen und darauf hinzuweisen, dass es uns auch noch gibt – auch wenn es einige nicht mehr hören können und denken „Die schon wieder – die nervt…“ Aber in der hitzigen Corona-Debatte, wann welche Altersstufen wieder zur Schule gehen sollen, ob es eine Mundschutzpflicht gibt oder nicht etc. fällt mir wieder mal auf: Keiner hat uns auf dem Schirm! Und offenbar auch nicht die 26 Leopoldina-Wissenschaftler.

Dabei sind viele gute und richtige Ansätze in dem Papier. Z.B. in der Warnung, dass Familien an ihre Belastungsgrenzen kommen, je länger der Shutdown anhält; dass Familien nach außen hin unsichtbar (oder in meinen Worten „unerhört„) bleiben; dass einige gesellschaftliche Gruppen besonders gefährdet seien, „weil sie über weniger Macht oder Ressourcen verfügen, um sich am gesellschaftlichen Diskurs zu beteiligen und ihn in ihrem Sinne zu beeinflussen„.

Da ist unser Problem wieder: Wir haben keine Lobby, niemand sieht uns, über uns – geschweige denn mit uns! – wird kaum gesprochen…

Die Leopoldina-Wissenschaftler betonen aber, dass für Risikogrupen unbedingt Hilfs- und Unterstützungsangebote bereitgestellt werden müssen. Zudem sehen die Wissenschaftler die – berechtigte! – Gefahr, dass sich die anfängliche Welle der Solidarität in eine „Schwächung der Zivilgesellschaft“ umkehrt und lehnen eine „vorbeugende Segregation einzelner Bevölkerungsgruppen (…) allein zu deren eigenem Schutz als paternalistische Bevormundung“ ab. Richtig so!

Ich glaube, was in der gesamten Debatte fehlt, ist der berühmte Blick durchs Schlüsselloch. Wie ergeht es uns Familien mit einem behinderten Kind nach mehr als vier Wochen Shutdown? Was bedeuten die ganzen Argumente für und wider eine Schulöffnung oder der Mundschutzpflicht?

Wenn unsere Förderschule weiterhin geschlossen bleibt (ich befürchte ja bis zum Ende des Schuljahres), dann stoßen wir sehr bald an unsere Grenzen. Wer entlastet Mama und Papa bei meiner Rund-um-die Uhr-Pflege? Macht meine Schule vielleicht doch früher auf und die Erzieher, Heilpädagogen und Therapeuten müssen einen Mundschutz tragen, heißt das für mich wiederum: Panik! Ich reagiere schon total panisch und hyperventiliere, wenn Papa oder Mama eine Mütze tragen. Ein Mundschutz bringt mich völlig aus dem Konzept und knockt mich regelrecht aus. Schule wird dann undenkbar für mich…

Das ist nur ein klitzekleiner Blick durch „mein“ Schlüsseloch – der aber zeigt, wie besonders, individuell und verschieden die Herausforderungen sind. Es gibt keine „Musterlösung“ – stattdessen müssen flexible und individuelle Unterstützungsangebote gefunden werden. Aber um diese zu finden, muss man auch miteinander sprechen und nicht über uns hinwegsehen…

Ich werde jedenfalls weiter meine Stimme (über Mama und Papa) erheben – in der Hoffnung, dass auch Leopoldina-Wissenschaftler die mal hören… 😉